In deinen Schuhen
Eigentlich glaube ich, dass ich immer schon ein achtsamer und emphatischer Mensch war. Ich sage gern flapsig – mir fehlt das Wegschau-Gen, wohl auch deshalb bin ich mit einem großen Hilfsprojekt in Kenia gelandet. Aber ich kann sagen, seit es meinen Mann vor fast 2 Jahren in den Rollstuhl verbannt hat, Diagnose Querschnittslähmung, sehe ich ganz viele Dinge aus noch einem anderen Blickwinkel.
Derzeit leiden wir ja alle in Europa unter dem Wetter. Heute, während ich es schreibe, ist Frühlingsanfang, und vor dem Haus gräbt sich der Schneepflug durch die winterlichen Überreste. Das nervt. Jeden, mit dem man so spricht. Kann es nicht endlich warm sein?
Aber während gesunde und junge Menschen nur genervt sind, sich halt wärmer anziehen und trotzdem schnell mal zum Lebensmittelhandel hüpfen, während wir über zusammengeschobenen Schnee einfach drüber steigen, sind Winter und die niedrigen Temperaturen, Schneemassen oder Glatteis, heftiger Wind und Regen für meinen Mann gleichbedeutend mit einem Gefängnis. Er hat nicht mehr so wie wir die Möglichkeit der schnellen Temperaturanpassung. Kälte würde er auf den Beinen nicht gleich spüren, viel anziehen und mehrere Schichten helfen da nur begrenzt und nehmen dann zusätzlich die Bewegungsfreiheit, die ja im Rollstuhl ohnehin nicht so prickelnd ist.
Und so wie meinem Mann geht es älteren Menschen, Gehbehinderten, Schwachen, Menschen mit Sehstörungen. Irgendwo weit weg? Nein, vielleicht in der Nachbarwohnung. Wir sehen sie im Winter nicht, weil sie eingesperrt sind, weil sie nicht raus können. Gut, wer Angehörige hat in dieser Zeit. Und ja, es gibt Lieferdienste, aber gerade ältere Menschen lassen auch nicht so gern Fremde in ihre Wohnung, kommen vielleicht mit dem Internet nicht so zurecht, brauchen für sich allein nicht so viel, dass es sich auszahlt. Und beliefert werden ändert noch nichts am eingesperrt sein.
Ich hab keine echte Lösung, außer vielleicht wieder vermehrte Nachbarschaftshilfe. Zeitung mitbringen und einfach mal anläuten. Frische Semmeln, oder – wie meine wunderbare Nachbarin – Facebooknachricht – Kuchen wäre fertig. Oder wie unser Hausmeister, der mich zwar morgens nervt, wenn er unter meinem Fenster nicht nur Schnee schaufelt, sondern auch das Geländer abkehrt, laut. Der aber achtsam ist, warum hat er meinen Mann schon lange nicht gesehen draußen, alles in Ordnung? Kann ich etwas tun? So eine einfache Frage, soviel Wirkung.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen, besonders aber meinem Mann, dass es bald wärmer wird und die Sonne uns wieder hinaus lockt.