Melodien der Erinnerung
Gestern auf dem Heimweg vom Büro habe ich im Radio wieder einmal plötzlich ein Lied gehört, das mich sofort an meinen Vater erinnert hat. Da höre ich ihn mitsingen, trommeln, sehe ihn vor meinem inneren Auge im Wohnzimmer meiner Kindheit stehen. Mein Vater war Musiker und Musiklehrer, und seine Leidenschaft für die Musik war allgegenwärtig. Er ist vor rund eineinhalb Jahren verstorben und heute, am 7.2., wäre sein Geburtstag.
Das Alter wird in unserer Gesellschaft oft mit Defiziten in Verbindung gebracht. Wer alt ist, braucht Hilfe, ist gebrechlich, eine Belastung. In Kenia erlebe ich es anders: Dort sind alte Menschen Respektspersonen, ihre Erfahrung ist wertvoll, ihr Rat gefragt. Hierzulande ist es leider oft das Gegenteil. Viele Menschen werden erst in die Familie integriert, wenn sie pflegebedürftig sind. Das schafft eine Wahrnehmung des Alters, die von Einschränkung und Belastung geprägt ist. Doch Alter ist mehr als das. Es ist eine Lebensphase voller Erinnerungen, Erfahrungen und einer Tiefe, die in unserer schnelllebigen Zeit oft unterschätzt wird.
Gerade die Musik hat die Kraft, diese Erinnerungen lebendig zu halten. Ich habe es bei meinem Vater erlebt – als Worte nicht mehr möglich waren, erreichten wir ihn mit Musik noch immer. Das ist wissenschaftlich belegbar: Musik aktiviert zahlreiche Gehirnprozesse, beeinflusst Emotionen und kann insbesondere bei Menschen mit Demenz Wunder bewirken.
Ich arbeite ja auch gerade an einer neuen Pflegefortbildung, auch dabei beschäftige ich mich intensiv mit Biografiearbeit, einem wichtigen Ansatz in der Seniorenbetreuung. Dabei geht es darum, Erinnerungen wachzurufen, die persönliche Lebensgeschichte zu würdigen und dadurch eine tiefere Verbindung zu schaffen. Musik spielt in der Biografiearbeit eine zentrale Rolle, da sie Erinnerungen an frühere Lebensphasen weckt und oft mit starken Emotionen verknüpft ist. Menschen können durch vertraute Klänge Momente aus ihrer Vergangenheit erneut erleben, was ihr Wohlbefinden deutlich verbessern kann.
Welche Musik eignet sich am besten? Hier gibt es kein Patentrezept. Musik ist zutiefst persönlich. Was die einen zu Tränen rührt, lässt andere kalt oder nervt sie sogar. Es geht nicht um allgemeingültige Klassiker oder therapeutisch empfohlene Stücke, sondern um das, was den einzelnen Menschen bewegt. Welche Musik hat eure Eltern oder Großeltern in ihrer Jugend begleitet? Welche Lieder haben sie geliebt, zu welchen haben sie getanzt? Diese Fragen sind wertvoll, um später einen Anker in die Vergangenheit zu haben, wenn Worte verblassen.
Ebenso entscheidend ist die Art der Darbietung. Musik ist keine Einbahnstraße. Sie entfaltet ihre stärkste Wirkung, wenn sie aktiv erlebt wird. Ein Radio, das im Hintergrund dudelt, kann Erinnerungen wecken, aber nichts ersetzt die Magie von Live-Musik. Das kann ein Enkel sein, der ein Lieblingslied vorsingt, oder ein gemeinsames Summen einer Melodie, die einst bedeutend war – es geht um die emotionale Verbindung, die dadurch entsteht.
Gerade in der Seniorenarbeit sollte Musik nicht als bloßer Zeitvertreib gesehen werden, sondern als Schlüssel zu einer Welt, die oft unerreichbar erscheint. Ich möchte daher alle, die mit älteren Menschen arbeiten oder leben, ermutigen, Musik gezielt einzusetzen. Findet heraus, welche Klänge eure Lieben berühren, singt mit ihnen, spielt ihnen vor. Denn Musik ist mehr als Unterhaltung. Sie ist Erinnerung, Gefühl, ein Stück Identität – und manchmal die letzte Brücke, die bleibt.
Herzliche Grüße,
Mag. Sarah Eidler